„Die große Heilung kommt erst mit dem Erwachen …“ Eckhard Tolle im Interview

Manchmal erhalten wir Impulse von außen, um zu erkennen, welche Veränderungen für uns anstehen. Manchmal kommen Impulse auch direkt von innen, um uns zu zeigen, in welche Richtung es weiter geht. Sind wir offen für lebendige Impulse jeglicher Art, dann sind wir in Kontakt mit unserem Sein – und ganz im gegenwärtigen Moment.

“Der gegenwärtige Moment ist das Leben. Jetzt ist das Leben. Wenn wir ja zum Moment sagen, ja sagen zu dem, was jetzt ist, dann sagen wir ja zum Leben!” So hatte ich das noch nie gesehen. Eine interessante Verknüpfung, denke ich für mich: der augenblickliche Moment und das Leben… Wenn wir also der fünften Lebensregel folgen, wenn wir “dankbar für alles Lebendige” sind, dann sind wir zugleich auch dankbar für den gegenwärtigen Moment. Dankbarkeit für das Jetzt, als Basis, um darin zu verweilen…

Der Mann vorne auf der Bühne ist fast am Ende seines Vortrags angelangt, oder besser: am Ende seiner Erforschung der Momente bzw. des Momentes zwischen 14 und 16 Uhr, an einem Samstag in Berlin, vor rund tausend Menschen, die ihm dabei aufmerksam zuhören – was ihnen zu helfen scheint, das Mysterium des Jetzt besser zu verstehen und zunehmend darin verweilen zu können.

Ich befinde mich im Fontane-Haus, im Märkischen Viertel, im Norden Berlins. Draußen scheint die Sonne, es ist windig heute. Neben mir sitzt Heidrun, meine Frau. Sie hört dem Mann auf der Bühne ebenso aufmerksam zu wie ich. Der Mann auf der Bühne ist Eckhart Tolle. Er spricht aus seinem unmittelbaren Erleben des Jetzt heraus. Ganz wie in seinem Buch “Jetzt! Die Kraft der Gegenwart”, das auch auf der Bestsellerliste der New York Times zu finden war und mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt wurde.

Die Veranstaltung ist zu Ende. Wir verlassen den Saal, gehen die Straße entlang, steigen in unser Auto und fahren los. Auf der Rückfahrt, während ich noch versuche, mit Hilfe der eben erhaltenen Impulsen mein Erleben des Jetzt dauerhaft zu bewahren, schweifen meine Gedanken immer wieder ab, hin zu gestern, wo ich die Gelegenheit hatte, Eckhart Tolle zu interviewen.

Spirituelles Erwachen

Oliver Klatt: Erst einmal vielen Dank, Herr Tolle, für Ihre Bereitschaft zu diesem Interview. Das Usui-System des Reiki ist eine Heilmethode, bei der durch Handauflegen universelle Lebensenergie übertragen wird. Ein Thema, das mich immer wieder beschäftigt, ist die Frage, inwieweit Heilung von Bedeutung ist für das spirituelle Erwachen. Können Sie etwas dazu sagen?

Eckhart Tolle: Man könnte sagen: Das spirituelle Erwachen ist die Quintessenz von Heilung überhaupt, es ist die große Heilung. Ein anderes Wort für spirituelles Erwachen ist Heilung. Ohne das spirituelle Erwachen ist der Mensch immer noch ungeheilt, auf irgendeiner Ebene – die große Heilung kommt erst mit dem Erwachen.

Die Heilung von physischen Symptomen ist natürlich wunderbar. Sie hat ihren Platz in dieser Welt und ist auch wichtig. Aber Menschen, bei denen nur physische Symptome oder Krankheiten geheilt werden, bleiben auf einer anderen Ebene noch ungeheilt. Für diese Menschen ist es wichtig zu erkennen, dass durch die Heilung eine Dimension jenseits der physischen Dimension in ihr Leben getreten ist. Dies können sie zum Ausgangspunkt dafür nehmen, sich zu öffnen für das spirituelle Erwachen, so dass sie nicht wieder zurückfallen. Denn das ist oft das Problem bei der Heilung von physischen Symptomen: dass der Mensch zurückfällt in eine geistige Verfassung, wie sie vor der Heilung bestand, die dann wieder die gleichen Krankheiten erzeugt wie vorher, weil im Bewusstsein immer noch die alten Gedankenmuster tätig sind.

Wunderbare Leichtigkeit

Vor vielen Jahren, als ich anfing, mit Menschen zusammen zu sitzen und Fragen zu beantworten, da saß mir einmal eine ältere Dame gegenüber, die einige psychologische Probleme hatte. Sie war Schwester in einem katholischen Orden gewesen, war dann aber ausgetreten, weil sie dort nicht zu Gott hatte finden können. Ich sprach mit ihr und fühlte plötzlich, wie ich eintrat in einen Zustand wunderbarer Leichtigkeit und tiefen Friedens, während sie mir ihre Probleme erzählte. Ich saß da, in diesem Zustand tiefen inneren Friedens und der Freude, und schaute sie nur an. Plötzlich hörte sie auf mit der Schilderung ihrer Probleme und sagte zu mir: “Sie heilen jetzt gerade, sie heilen mich!” Und das war das erste Mal, dass ich das Wort Heilen verband mit der Bewusstseinsveränderung. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel verstand von dem, was mit mir geschehen war, von der inneren Verwandlung, dachte ich: ‚Ah… ich bin Heiler.’ Und dann kamen einige Jahre lang Leute zu mir, und ich war “Spiritual Healer”. Viele kamen, um physisch geheilt zu werden. Einige von ihnen wurden geheilt. Nach zwei, drei Jahren kamen immer mehr Menschen, die eigentlich nur ihre physischen Symptome loswerden wollten. Da fand ich es nicht mehr so zufrieden stellend, nur auf physischer Ebene zu heilen. Von da an habe ich das Wort Heiler nicht mehr gebraucht. Obwohl ich weiß, dass alles, was ich tue, im weitesten Sinne, Heilen ist. Es ist das Heilen des Menschen überhaupt.

Oliver Klatt: Kann man sagen, dass ein gewisses Maß an Heilung die Voraussetzung für spirituelles Erwachen ist? Oder ist es eher so, dass Heilung ein “Nebenprodukt” von spirituellem Erwachen ist?

Eckhart Tolle: Heilung kann von innen kommen, und sie kann von außen kommen – und wird dann im Innen etwas aktivieren, im Menschen. In manchen Fällen kommt die Heilung allein von innen, ohne dass ein anderer Mensch daran beteiligt ist. Ich hatte nie einen geistigen Lehrer bzw. einen Heiler. Bei mir kam der Heilungsprozess ganz spontan. In meinem Fall kann ich es nicht einmal einen Heilungsprozess nennen, weil alles so schnell geschah. Aber bei den meisten Menschen ist das Erwachen ein Heilungsprozess. In manchen Fällen ist der Anlass eine von außen kommende Heilung, vielleicht sogar durch einen Arzt, was heutzutage recht selten ist, weil viele Ärzte regelrecht besessen sind von gedanklichen Inhalten, wodurch das Räumliche meist zu kurz kommt. Aber wahrscheinlich gibt es immer noch Ausnahmen. Die Heilung kann in einer therapeutischen Situation eintreten, manchmal auch ohne dass der Therapeut weiß, dass plötzlich diese heilende Dimension da ist und aktiv wird. Ich glaube sogar, dass das oft geschieht, oder sagen wir: Es kann geschehen. Und für einige Menschen ist dies der Ausgangspunkt, die Erfahrung von Heilung in einer therapeutischen Situation. Danach kann man entweder wieder zurückfallen, sagen wir in das normale Stadium des Bewusstseins. Oder man kann sich von dort ausgehend öffnen.

Der innere Raum

Ich denke, es ist wichtig, dass der Heiler dem Menschen hilft, nicht bloß frei zu werden von physischen Problemen, sondern zugleich auch frei von der Anhaftung an Gedanken. Denn ein wichtiger Prozess des Erwachens ist es, frei zu werden von der vollkommenen Identifikation mit dem Fluss der Gedanken, so dass der innere Raum sich öffnen kann, dem jedes Heilen entstammt: die Stille, die Weite, das räumliche Bewusstsein, aus dem die heilende Kraft kommt. Wer noch nicht in dieses räumliche Bewusstsein gefunden hat, bei wem das räumliche Bewusstsein vollkommen überdeckt ist vom Fluss der Gedanken, der wird wieder zurückfallen in alte gedankliche Muster und in Fehlverhalten, das dann wieder die gleichen Symptome produziert wie vorher. Deshalb ist es wichtig, dass der Heiler auch die Dimension des Gedanklichen anspricht. Und es ist natürlich wichtig, die Stille zu erfahren: die Stille der Heilsituation. Die Stille kommt zunächst in dem Heiler. Der Heiler, der nicht die Stille findet, kann kein wirklicher Heiler sein. Der Heiler muss in sich die Stille finden, die jenseits der Gedanken liegt. Das ist dann manchmal schon die ganze Heilung. Jeder, der in das Feld der Stille eintritt, sofern er nicht vollkommen blockiert ist, wird diese Dimension, dieselbe Dimension, in dem anderen Menschen aktivieren – und dann geschieht der Heilungsprozess.

Oliver Klatt: Im Usui-System des Reiki haben wir eine Reihe von Lebensregeln, mit denen wir arbeiten. Darin heißt es z. B.: Ärgere dich nicht, sorge dich nicht, sei dankbar – dies sind Bereiche, zu denen ich Sie auch befragen möchte. Zunächst: Wie kann es gelingen, Ärger und Sorge weitestgehend zu vermeiden?

Eckhart Tolle: Ärger und Sorge sind ja eigentlich gewisse Gedanken, die durch den Kopf gehen. Und die Reaktion des Körpers auf diese Gedanken, das ist dann die Emotion. So haben Ärger und Sorge zwei Aspekte: den gedanklichen Aspekt und den emotionalen Aspekt. Ärger fängt damit an, dass man eine Situation gedanklich negativ beurteilt. Dabei ist man so identifiziert mit der gedanklichen Beurteilung der Situation, dass der Körper mit einer Emotion reagiert. Und diese Emotion gibt dem negativen Ursprungsgedanken dann noch mehr Energie, und der Gedanke wird erweitert, führt zu einem zweiten, dritten, vierten Gedanken. Der Mensch hat den ersten Moment verpasst, um zu sehen. Das, was er Ärger nennt, war eine gedankliche Benennung einer Situation, die, so wie jede Situation, einfach so ist, wie sie ist: an sich neutral. Ärger ist das, was man dazu tut. Ärger ist das Fehlverhalten. Man muss Ärger und Sorge erkennen als das, was sie sind: Gedankenformen. Wenn ich immer so identifiziert bin mit meinen Gedanken, dass überhaupt kein Raum da ist, jenseits der Gedanken, dann kann ich mich noch so sehr bemühen, mich nicht zu ärgern, es wird mir nicht gelingen. Wenn ich nicht erkannt habe, dass Ärger dann entsteht, wenn ein Gedanke in meinen Kopf kommt und ich vollkommen an diesen Gedanken glaube… da ist dann kein Abstand mehr zwischen mir und dem Gedanken, ich bin so identifiziert, dass ich hundertprozentig glaube, was der Gedanke sagt: “Das ist ja eine furchtbare Situation!” So zu denken, ist schon der erste Fehler. Es ist keine furchtbare Situation. Es ist, wie es ist. Das Furchtbare ist der Gedanke. Und das ist Ärger. Man muss also das grundlegende Fehlverhalten erkennen, denn sonst kann man sich bemühen, so viel man will. Vielleicht denkt man: Ich darf mich nicht ärgern, es ist schlecht für meine Gesundheit. Aber solange man nicht erkannt hat, in sich selbst, wie überhaupt der Ärger entsteht, kann man nie frei davon werden, so sehr man sich auch bemüht, denn das Bemühen selbst wird wieder ein Problem erzeugen. Eine andere Ebene von Problemen. Und das gleiche trifft auch für Sorgen zu. Sich Sorgen zu machen ist ja ein Stück weit normal, aber es ist zugleich auch ein Fehlverhalten. Sich Sorgen zu machen heißt ebenso, jedem Gedanken vollkommen Glauben zu schenken. Man macht sich z. B. Sorgen, wenn man im Bett liegt, es ist 3 Uhr morgens, ich wache auf und mache mir solche Sorgen… Aber was bedeutet das überhaupt: Ich mache mir Sorgen? Es bedeutet: Ein Gedanke nach dem anderen geht durch meinen Kopf, der nichts mit dem jetzigen Moment, welcher die einzige Wirklichkeit ist, zu tun hat. Wenn ich aber erkenne, dass der ständige Gedankenfluss durch meinen Kopf überhaupt nichts zu tun hat mit dem Moment, in dem ich mich befinde, wenn ich das plötzlich erkenne, dann ist das ein Moment der Freiheit. Dann glaube ich nicht mehr hundertprozentig an das, was jeder Gedanke sagt, sondern ich kann den Gedanken als Gedanken erkennen. Es ist nur ein Gedanke, nicht die Wahrheit. Und dann erkenne ich, dass die Sorge zum größten Teil eine Illusion ist. Solange man diesen Prozess in sich nicht erkannt hat, kann man noch so sehr versuchen, sich nicht zu sorgen, es wird einem nicht gelingen.

Dankbarkeit

Oliver Klatt: Ein anderes zentrales Thema in den Reiki-Lebensregeln ist Dankbarkeit. Können sie etwas sagen zu der Bedeutung von Dankbarkeit für das spirituelle Erwachen?

Eckhart Tolle: Ja, Dankbarkeit ist ungeheuer wichtig. Dankbarkeit bedeutet natürlich, dass ich mich innerlich dem öffne, was ist. Dem, was im gegenwärtigen Moment ist. Wirkliche Dankbarkeit ist Dankbarkeit für das, was jetzt ist. Das ist der Ausgangspunkt für alles. Das innere Ja-sagen zum jetzigen Moment und ein freudiges Annehmen dessen, was ist. Nur das kann die Basis sein, wenn man sein Leben verändern will. Es gibt ja Leute, die unzufrieden sind mit ihrer Lebenssituation, und das mag seine Gründe haben. Vielleicht leben sie an einem Ort, der unsicher ist oder unangenehm, vielleicht ist es dort zu kalt, zu heiß, oder sie haben andere Lebenssituationen, die Unzufriedenheit bringen. Es ist sehr gefährlich, wenn diese Menschen anfangen zu versuchen, ihr Leben zu verändern, und sie dabei ausgehen von ihrer Unzufriedenheit mit dem, was ist. Was sie auch machen, selbst wenn sie äußerlich Erfolg haben: die Unzufriedenheit wird sie weiter begleiten. Wichtig ist, sich zunächst mit dem jetzigen Moment anzufreunden, auch wenn dieser Elemente enthält, die man lieber nicht erfahren würde. Denn man kann nicht verleugnen, dass der Moment immer so ist, wie er ist. Man freundet sich also am besten einfach mit dem So-sein an. Mit dem So-sein der Dinge. Das So-sein betrifft immer nur den jetzigen Moment. Es betrifft nicht meine Lebenssituation, die ja eine Vergangenheit und eine Zukunft hat, sondern nur den jetzigen Moment. Vielleicht ist es so: Ich habe kein Geld, essen zu kaufen. Ich habe nur noch 50 Cent in der Tasche. Das ist das So-sein. Ich sitze hier auf einer Bank, und ich weiß nicht, wo ich heute Nacht schlafen werde. Das ist das, was man normalerweise eine “nicht zufrieden stellende Situation” nennen würde. Jetzt ist es aber wichtig, sich anzufreunden mit dem, was ist. Das bedeutet nicht zu sagen: Okay, ich muss akzeptieren, dass ich obdachlos bin, ich muss akzeptieren, dass ich arm bin, ich muss akzeptieren, dass ich keine Chance mehr habe, dass ich alles vertan habe, alle Chancen in meinem Leben… all das sind gedankliche Illusionen. Man darf das Akzeptieren des So-Seins nicht verwechseln mit gedanklichen Illusionen. Es geht lediglich um die einfache Realität des jetzigen Momentes, nicht um dessen gedankliche Beurteilung. Dieser Moment ist, wie er ist. Hier ist die Bank. Ich sitze auf der Bank, ich atme, ich schaue, ich höre, fühle die Energie in meinem inneren Körper, und ich fasse mit der Hand in die Tasche und habe noch 50 Cent – das ist der jetzige Moment, und der ist, wie er ist. Wenn ich jetzt vollkommen ja sage, dann gibt es viele Gründe dafür, dankbar zu sein. Ich kann dankbar dafür sein, dass der Atem fließt. Ich kann dankbar für die Energie sein, die ich in meinem Körper spüre, für die Lebendigkeit im Körper. Ich kann dankbar sein für das Rascheln der Blätter am Baum, das leichte Säuseln, das ich höre, für den Wind. Ich kann dankbar sein für die Sonne, die Wolken und für das Wunderbare des jetzigen Momentes. Das benötigt keine gedankliche Beurteilung. Es geht nur darum, die Lebendigkeit dieses Momentes zu sehen, zu fühlen, äußerlich und innerlich, und dann kommt die Dankbarkeit wie von selbst.

Einheit allen Seins

Dankbarkeit sollte man nicht fabrizieren wie ein Gedankengebäude und z. B. sagen: “Oh, ich müsste eigentlich dankbar sein, es gibt so viele Leute, die viel schlechter dran sind als ich.” Dann würde ich versuchen, die Dankbarkeit über einen Umweg zu erreichen, über die Gedanken. Das ist aber nicht das Wirkliche. Es ist doch eigentlich schade, wenn ich nur dankbar sein kann, wenn ich daran denke, dass es anderen noch schlechter geht als mir. Das ist nicht die wirkliche Basis für Dankbarkeit. So geht es also nicht. Der einzige Weg ist, sich der Lebendigkeit des jetzigen Momentes zu öffnen. Dann sieht man plötzlich, wie wunderbar es ist, wenn man den jetzigen Moment nicht beschwert durch Gedankengebäude. Man erfährt die Lebendigkeit des jetzigen Momentes, und dann ist die Dankbarkeit da. Das ist ein vollkommenes Sich-öffnen, auch für die Energie, die hinter den Dingen liegt. Wenn ich den Baum sehe, vollkommen ohne gedankliche Beurteilung, dann spüre ich auch die Energie, die dahinter liegt – weil ich sie in mir spüre. Es ist die gleiche Energie, im Baum, in dem Vogel, im Wind… Ich spüre dann auch die Einheit allen Seins, ohne es mir gedanklich erklären zu müssen. Wenn ich mich dem jetzigen Moment hingebe, dann erfahre ich sofort, dass ich eins bin mit allem, ohne es überhaupt sagen zu müssen. Und das ist Dankbarkeit. Auf dieser Basis kann ich dann Dinge unternehmen, um irgendetwas zu tun, meine Situation zu verändern, und dann fließt eine vollkommen andere Energie in das, was ich tue. Ich würde sagen, es ist dann nicht mehr die karmische Energie, die Gegensatz, Spannung erzeugt. Es ist nicht mehr die Energie, die aus der Negativität heraus kommt, sondern sie kommt dann aus dem Sein selbst. Und so wird alles viel erfolgreicher, was ich unternehme. Das ganze Leben wird viel leichter, die Schwere geht dann weg.

Die geistige Quelle

Oliver Klatt: Vielen Dank für diese erweiternde Sicht zum Thema Dankbarkeit. Ich möchte noch zu einem Thema kommen, das Sie eben bereits angesprochen haben: die Lebensenergie. Im Usui-System des Reiki arbeiten wir mit einer universell ausgerichteten Form der Lebensenergie Ki. In Ihrem Buch “Jetzt! Die Kraft der Gegenwart” benennen sie an einer Stelle die Lebensenergie Ki als “inneres Energiefeld des Körpers”, als die “Brücke zwischen dem äußeren Du und der Quelle” sowie als “Verbindung zwischen dem Unmanifesten und dem physischen Universum”. Können Sie mehr dazu sagen, welche Rolle die Lebensenergie für das spirituelle Erwachen spielen kann?

Eckhart Tolle: Das Ki wird aktiviert, wenn man sich der inneren Stille öffnet. Die innere Stille ist ein anderes Wort für das Unmanifeste. Die innere Stille ist das Nicht-Gewordene – ich glaube, das ist ein buddhistischer Ausdruck -, das “Nicht-Geborene”, das formlose Sein. Das formlose Sein ist der Ausgangspunkt. Es ist wichtig für den Menschen, diese Dimension in sich zu finden, die in jedem Menschen schon vorhanden ist, als die Lebensessenz selbst. Wenn ein Mensch das findet und der Fluss der Lebensenergie nach außen geht, stärker wird, sich aktiviert… dann kann der Mensch eine heilende Funktion haben, selbst wenn er überhaupt nicht daran denkt. Jemand, der diese Dimension in sich aktiviert hat, jemand, in dem sie sich aktiviert hat, muss eine heilende Funktion haben. Das Ki fließt dann in alle möglichen Dinge. Das kann vollkommen formlos sein. Wenn ich in einem Raum sitze, mit einem anderen Menschen oder mit mehreren anderen Menschen, dann kann das schon eine Übertragung von Lebensenergie sein. Oder die Energie überträgt sich mit einem Blick, fließt hinüber zu einem Menschen, wenn ich ihn anschaue. Natürlich auch, wenn ich einen Menschen anfasse. Und die Energie kann fließen, wie ich es oft erfahre, in Worten… Wenn ich spreche, kommt das, was ich sage, direkt aus dem Sein, nimmt dann Form an, wird erst die Lebensenergie, und dann zu einer gedanklichen Form. Die gedankliche Form, die direkt aus der Quelle kommt, trägt noch die Energie der Quelle in sich, die “Quellenenergie”… und kann dadurch eine sehr starke, transformative Kraft haben. Das ist die Kraft einer geistigen Lehre, die wirklich direkt aus der geistigen Quelle kommt. Da gibt es dann jenseits der Informationen, die die Worte vermitteln, immer noch eine andere Dimension, die noch wichtiger ist, die Tiefendimension, die Energiedimension, die die Worte trägt. Und darüber hinaus gibt es noch etwas, was ich überhaupt nicht verstehe, aber was der Fall ist: Selbst wenn jemand etwas schreibt,   das direkt aus der Quelle kommt, dann ist die Energie immer noch in dem Geschriebenen. Und sobald ein Mensch es liest – er braucht nur eine gewisse Offenheit dafür zu haben -, dann ist plötzlich die Energie wieder da. Das ist die Kraft einer geistigen Lehre, auch wenn sie auf Papier geschrieben ist. Wenn sie wirklich aus der Quelle kommt, ist selbst in dem geschriebenen Wort noch die Kraft enthalten. Wer das erkannt hat, wer das erfühlt hat, der kann sehr leicht in einen Buchladen gehen, ein Buch aufschlagen, ein paar Zeilen lesen und sofort spüren, ob die Kraft da ist oder nicht. Es gibt ja heutzutage sehr viele Bücher im spirituellen Bereich, die durch Gedanken geschrieben sind, d. h. sie kommen nicht direkt aus der Quelle. Diese Bücher kann man so von den anderen unterscheiden, und dann braucht man nicht mehr so viele Bücher zu kaufen… (Lachen)

Oliver Klatt: (Lachen) Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Und auch so gibt es sicher noch ausreichend Bücher, sodass man sein Leben lang genug zu lesen hat…

Eckhart Tolle: Ja, es ist wunderbar, wo die Wahrheit heutzutage überall zu finden ist… das gab es früher nicht so. Da musste man 30 Jahre im Kloster verbringen, und dann hatte man immer noch nur einen kleinen Teil dessen, was man heute überall hat.

Oliver Klatt: Herr Tolle, vielen Dank für das Interview.

Das Interview entstand im Jahr 2007 in Berlin, in einer persönlichen Begegnung vor Ort zwischen Oliver Klatt und Eckhart Tolle.

Zur Person: Eckhart Tolle wurde in Deutschland geboren und verbrachte hier die ersten 13 Jahre seines Lebens. Nach dem Studienabschluss an der University of London war er in Forschung und Supervision an der Cambridge University tätig. Im Alter von 29 Jahren erlebte er nach eigenen Angaben ein plötzliches und radikales spirituelles Erwachen. Die Jahre danach verbrachte er damit, diese Erfahrung zu vertiefen und zu integrieren. Seit mehr als 15 Jahren unterrichtet er nun als geistiger Lehrer in Nord- und Südamerika sowie in Europa. In seinem weltbekannten Buch “Jetzt! Die Kraft der Gegenwart” beschreibt er die von ihm erlebte, von traditionellen Mystikern als “Erleuchtung” bezeichnete Loslösung aus der Identifikation mit seiner Persönlichkeit.

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