„Glück ist ein Zustand, der erreicht werden kann …“ Dr. Ha Vinh Tho im Interview
Mikao Usui, der Begründer der Reiki-Methode, nannte die Anwendung von Reiki „die geheime Methode, das Glück einzuladen“. Im Leben der Menschen weltweit spielt das Streben nach Glück eine zentrale Rolle. Oliver Klatt führte ein Interview mit dem Glücksexperten Dr. Ha Vinh Tho, der im Sinne des Bruttonationalglücks (BNG) jahrelang für die Förderung des Glücks der Bewohner von Bhutan tätig war, im Auftrag der dortigen Regierung.
Oliver Klatt: Durch zahlreiche Studien zum Thema Glück hat der Diskurs über Glück zunehmend an wissenschaftlicher Legitimation gewonnen. Die UNO verabschiedete 2011 eine Resolution, in der sie dem Glück und dem Wohlbefinden aller Völker einen besonderen Wert zumisst. Dabei wurde das Angebot Bhutans begrüßt, während der 66. Tagung der UNO-Generalversammlung eine Podiumsdiskussion zum Thema Glück und Wohlbefinden abzuhalten. Die Teilnahme an dieser Veranstaltung im April 2012 war Ihre erste Amtshandlung als Programmdirektor des Bruttonationalglück-Zentrums von Bhutan. Können Sie Ihre Eindrücke von dieser Veranstaltung wiedergeben?
Glück für alle Menschen
Dr. Ha Vinh Tho: Die Veranstaltung in der UNO war sehr eindrucksvoll und außergewöhnlich. Es kamen über 800 Menschen zusammen: Staatsoberhäupter, Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, Nobelpreisträger, spirituelle Lehrer.
Ban Ki-moon, der Generalsekretär der UNO, der Ministerpräsident von Bhutan und die Präsidentin von Costa Rica waren die Gastgeber. Die wichtigste Erkenntnis war, dass Entwicklung und Fortschritt neu gedacht werden müssen und sich nicht bloß auf wirtschaftliches Wachstum, sondern in erster Linie auf Glück für alle Menschen und Wohlbefinden für alle Wesen und den Planeten richten sollten.
Oliver Klatt: Das Thema Glück ist ein weites Feld. Sie unterscheiden bei der Definition von Glück zwischen zwei Erlebnisqualitäten, die Sie mit zwei Begriffen aus der griechischen Philosophie des Altertums benennen: hedoné und eudaimonia. Können Sie etwas zu der Unterschiedlichkeit dieser beiden Erlebnisqualitäten sagen? Worauf bezieht sich die Definition von Glück im Rahmen des Bruttonationalglücks in Bhutan?
Zwei Arten von Glück
Dr. Ha Vinh Tho: Hedoné bezieht sich auf vorübergehende angenehme Erlebnisse. Diese sind von Mensch zu Mensch verschieden und sind von Natur aus kurzlebig. Zum Beispiel ein gutes Essen: da kommt es darauf an, was mir schmeckt – und wenn ich zu viel davon esse, schmeckt mir auch bald die beste Speise nicht mehr. Eudaimonia dagegen bezieht sich auf eine gutes, sinnvolles Leben.
Der Ministerpräsident aus Bhutan, J.Y. Thinley, hat Glück so beschrieben: „Wir haben klar den Begriff des Glücks im Sinne des BNG von dem oberflächlichen, angenehmen „Feel good“-Gefühl unterschieden, das zu oft damit identifiziert wird. Wir wissen, dass dauerhaftes echtes Glück nicht bestehen kann, wenn andere leiden. Und dass es nur dann entstehen kann, wenn wir anderen dienen und in Harmonie mit der Natur leben. Es kann sich nur dann entfalten, wenn wir die uns zutiefst eigene Weisheit und unser wahres Wesen verwirklichen.“ Zusammenfassend könnte man sagen, dass Glück in diesem Sinne darin besteht, in Harmonie mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und mit der Natur zu leben.
Oliver Klatt: Der vierte König von Bhutan, Jigme Singye Wangchuck, bestieg 1972 im Alter von nur 17 Jahren den Thron. Er prägte schließlich den Satz: „Das Bruttonationalglück ist wichtiger als das Bruttonationalprodukt.“ Was hat das Bruttonationalglück (BNG) als Kenngröße, was das Bruttonationalprodukt (BNP) nicht hat?
Das Bruttonationalglück
Dr. Ha Vinh Tho: Das Bruttonationalprodukt misst den Wert aller Güter, Waren und Dienstleistungen, welche in einem bestimmten Zeitraum erwirtschaftet werden. Es wird meistens angenommen, dass eine Steigerung des BNP an sich etwas Gutes sei. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass manche Produkte oder Dienstleistungen negative Auswirkungen auf die Gesellschaft oder die Umwelt haben. Wenn es zum Beispiel mehr Kriege gibt, werden mehr Waffen produziert. Das steigert das BNP, obwohl es katastrophale Konsequenzen für die Menschen und den Planeten hat.
Umgekehrt werden viele wichtige Dienstleistungen unentgeltlich vollbracht, wie zum Beispiel die Erziehung der Kinder oder die Pflege der alt gewordenen Eltern. Die Zeit, die hiermit verbracht wird, ist menschlich gesehen sehr kostbar. Sie wird aber nicht zum BNP dazu gezählt, weil sie nicht mit finanziellen Transaktionen verbunden ist.
Das Bruttonationalglück dagegen bemüht sich darum, alle Tätigkeiten zu erfassen – und dabei zu messen, ob sie positive oder negative Konsequenzen haben. Daher ergibt das BNG ein viel realistischeres Bild des Wohlergehens einer Gesellschaft.
Oliver Klatt: Welches sind die Kernthesen des Bruttonationalglücks?
Entwicklungen zum Glück
Dr. Ha Vinh Tho: Das BNG ist auf der Überzeugung begründet, dass Entwicklung einem Ziel dienen muss. Dass Entwicklung nicht einfach nur unbegrenztes wirtschaftliches Wachstum verfolgen soll, wie es das herkömmliche Entwicklungsmodell gegenwärtig tut – und dies dazu noch in einer begrenzten Umwelt. Das BNG beruht auf der Überzeugung, dass Entwicklung menschenzentriert und nicht wirtschaftszentriert sein soll. Und dass Entwicklung jene Voraussetzungen schaffen muss, die dem Individuum die Möglichkeit geben, das zu erreichen, was ihm am wichtigsten ist. Und das ist Glück.
Glück ist ein Zustand, der erreicht werden kann, wenn das, was der Körper und der Geist brauchen, im Gleichgewicht stehen. Wenn das Geistige und das Physische ausgewogen sind. So ist das BNG eine menschenzentrierte, ökologische, ganzheitliche, haltbare und inklusive Entwicklung.
Oliver Klatt: Das Bruttonationalglück hat vier Säulen – welche sind dies?
Dr. Ha Vinh Tho: Erstens der Schutz und die Resilienz der natürlichen Umwelt; zweitens die Bewahrung und Förderung der Kultur; drittens sozial gerechte und nachhaltige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung; und viertens eine gute Regierung.
Oliver Klatt: Als ein konkreter Bewertungsindex setzt sich das Bruttonationalglück aus neun Domänen sowie 33 Indikatoren zusammen. Alle drei Jahre besuchen in Bhutan Meinungsforscher die verschiedenen Provinzen des Landes, um eine repräsentative Stichprobe in der Bevölkerung zum Thema Glück zu erstellen. Welches sind die neun Domänen, die dabei eine wichtige Rolle spielen?
Die „Domänen des Glücks“
Dr. Ha Vinh Tho:
1. Psychisches Wohlbefinden
2. Gesundheit
3. Gebrauch der Zeit
4. Bildung
5. Kulturelle Vielfalt und Identität
6. Lebendige Gemeinschaft
7. Qualität der Führungsstrukturen
8. Ökologische Vielfalt und ihre Bewahrung
9. Lebensstandard
Oliver Klatt: Das Bruttonationalglück wird in Bhutan ganz konkret als Bewertungskriterium in wichtige politische Entscheidungsprozesse mit einbezogen. Können Sie den genauen Ablauf schildern, wie dies geschieht?
Dr. Ha Vinh Tho: Hier ein konkretes Beispiel: Das Wirtschaftsministerium der Königlichen Regierung von Bhutan schlug einmal vor, das Land solle der Welthandelsorganisation WTO beitreten. Als dieser Vorschlag erstmals im Kabinett diskutiert wurde, stimmten 19 der Minister für den Antrag, und nur sechs dagegen. Danach wurde der Vorschlag zur weiteren Analyse an die BNG-Kommission weitergeleitet, um darüber zu befinden, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf die allgemeine Entwicklung des Landes haben würde. Mit Hilfe des BNG-Analyse-Instruments untersuchte diese Kommission dann, welche Folgen ein WTO-Beitritt im Hinblick auf die neun Domänen hätte.
Staatliche Überprüfung nach Glückskriterien
Die Überprüfung ergab, dass die Auswirkungen auf die Variablen „Ökonomische Sicherheit“, „Materielles Wohlergehen“ und „Teilhabe an produktivem Tun“ als durchaus positiv zu bewerten sind. Allerdings waren die Auswirkungen auf die meisten anderen Variablen wie „Gerechtigkeit“, „Volksgesundheit“, „Belastung von Wasser und Luft“, „Bodendegradation“, „Artenvielfalt und -gesundheit“, „Familie“, „Freizeit“ und „Stress“ als negativ zu bewerten.
Als das Ergebnis der Analyse feststand, wurde es dem Kabinett vorgelegt, welches nach dem Verlesen des vollständigen Berichtes erneut über den Antrag abstimmte. Dieses Mal fiel das Ergebnis genau umgekehrt aus: 19 Mitglieder stimmten gegen den Antrag, und nur sechs dafür. Dies ist der Grund, warum Bhutan bis heute eines der wenigen Länder ist, die nicht der WTO angehören.
Wie das Beispiel zeigt, wäre die Entscheidung mit Sicherheit gegenteilig ausgefallen, wenn die Regierung sich allein am BNP und am Wirtschaftswachstum orientiert hätte. Weil aber die Regierung von Bhutan den Beitritt aus einer ganzheitlichen Perspektive betrachtete und bei ihrer Analyse nicht bloß die wirtschaftlichen und finanziellen Aspekte einbezog, sondern auch die Folgen für das Wohl der Gesellschaft und der Umwelt insgesamt berücksichtigte, entschied sie sich gegen den WTO-Beitritt.
Oliver Klatt: In Ihrem Buch schreiben Sie über eine Reise nach Nepal, die Sie Ende der 1960er Jahre unternahmen, und teilen Ihre Eindrücke davon: „Die Ankunft in dieser friedlichen Umgebung, die sich sosehr von den großen westlichen Städten unterschied (…), machte großen Eindruck auf mich. Zwar war das Land weit weniger entwickelt als die Welt, aus der ich kam, aber die Lebensweise der Menschen hatte eine Qualität, die mich berührte.“ Ich war Anfang der 1980er Jahre in Nepal, und mir ging es damals genauso wie Ihnen. Können Sie in Worte fassen, was diese Lebensqualität ausmacht, die uns durch die immer schneller werdende Technisierung und den zunehmenden Fortschritt immer mehr abhanden kommt? Was geht uns da verloren?
Innehalten
Dr. Ha Vinh Tho: Ein wichtiges Merkmal der gegenwärtigen Gesellschaft ist die Beschleunigung des Lebensrhythmus. Dies bewirkt wiederum, dass unsere Aufmerksamkeit immer mehr nach außen gerichtet ist, und dadurch werden wir uns selber fremd. Wir nehmen uns oftmals nicht die Zeit, nach innen zu schauen. Und diese Selbstentfremdung führt wiederum dazu, dass wir auch unseren Freunden und Verwandten nicht ausreichend Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Diese seelische Not versuchen wir durch Konsum zu stillen. Doch das ist ein hoffnungsloses Unterfangen, da wir einen Mangel an „Sein“ durch mehr „Haben“ ersetzen wollen.
Daher ist es heutzutage wichtig, regelmäßig Zeiten des Innehaltens in den Alltag zu integrieren. Momente, in denen wir nach innen schauen und uns auf das besinnen, was uns wirklich wichtig ist – auf die Punkte, wo wir unsere Prioritäten setzen wollen, damit wir nicht an unserem eigenen Leben vorbeigehen.
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Copyright Foto Dr. Ha Vinh Tho: privat
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